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Fremdheit als didaktische Aufgabe

Schlagworte: Fremdheit, Methoden interreligiöser Didaktik

(erstellt: Januar 2015)

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1. Fremdheit als Phänomen

Fremdheitserfahrungen lassen sich in vielen religionspädagogischen Belangen ausmachen, auch in Bezug auf eigene Traditionen; dieser Artikel richtet seinen Fokus auf die Frage nach der Fremdheit anderer Glaubensformen. Unter 1.1. bis 1.4. folgen jedoch zunächst übergreifende Vorüberlegungen.

1.1. Fremdheit als Interpretament

Die Bezeichnung als „fremd“ ist ein Interpretament, durch das eine Gemengelage von vertrauten und unvertrauten Aspekten zu Gunsten des Unvertrauten etikettiert wird – zum Beispiel: Eine Person benimmt sich wie jeder andere, aber in ihrer Aussprache vernehme ich einen Akzent, die Hautfarbe ist eine andere als meine. Allein durch die beiden letztgenannten Akzente kommt die besagte Zuschreibung zustande (Wierlacher, 1993, 62). Dieses Ineinander gilt auch für vieles andere, das als fremd attribuiert wird, und – so jeder sich selbst fremd sein kann – auch für das Eigene.

Da die Zuschreibung nicht immer eindeutig und mit Ambivalenzen verbunden ist, kann einer Fremdheitserfahrung Irritation entspringen: So kann sich z.B. die Frage stellen, ob bekannte oder ganz andere Verhaltensweisen angebracht sind; wenn internalisierte Verhaltensmuster in Frage gestellt werden, bauen sich leicht Schutzmechanismen wie Abwehr gegenüber dem Fremden auf. Neben der Abwehrhaltung kann das Unbekannte aber auch mit seiner irritierenden Fremdheit faszinieren und sogar zu Verschmelzungswünschen führen. Das Fremde kann schließlich auch ganz einfach zu Neugier anreizen, weil – so urteilt A. Wierlacher – „dieses dem Menschen Bewährungsmöglichkeiten offeriert, die seine Kräfte wecken und seine Selbstverwirklichung fördern“ (Wierlacher, 1993, 39).

1.2. Fremdheit und Hermeneutik

Interkulturelle Ansätze wie die Hermeneutik von Theo Sundermeier (1996), Milton Bennetts Frage nach entsprechender Sensibilität (2002) und Heinz Streibs Stile der Fremdbegegnung (2005) stellen in hermeneutischer Perspektive Modelle des Verstehens und der Orientierung in der Entwicklung der Fremdbegegnung zur Verfügung (vgl. genauer dazu Gärtner, 2015 → Hermeneutik des Fremden). Wie auch immer dabei Spannungen und Differenzen auf einer letzten („optimalen“) Stufe gefasst werden, festzuhalten bleibt bei allen Modellen die Verschränkung zunehmenden Verstehens und bleibender Fremdheit (Meyer, 2012, 277-284). Ziel des interkulturellen wie interreligiösen Verstehens ist also weder Verschmelzung bzw. Aufhebung der Unterschiede gegenüber einer anderen Tradition noch die Zementierung von Distanz, sondern je nach Modell unterschiedlich profilierte, konstruktive Begegnungen, die zum Lernen und zur eigenen Entwicklung führen.

1.3. Fremdheit und Religion

Einen eigenen Aspekt stellen daneben theologische Modelle (siehe genauer → Hermeneutik des Fremden) und die Frage nach dem Verstehen religiöser Erfahrungen dar. Rudolf Otto hat auf die besondere Qualität von religiösen Momenten hingewiesen, die mit der Begegnung von einem Heiligen verknüpft seien. Er bezeichnet sie als numinose Erfahrung, für die ein besonderes Gespür, ein sensus numinis, nötig sei. Die damit verbundene Fremdheitserfahrung erschrecke und fasziniere gleichermaßen (Otto, 1917). Viele Aussagen Ottos wurden in der Forschung in den letzten Jahrzehnten zurückgewiesen: Im Sinne Ottos könne vom Heiligen nur im Mittelmeerraum begrifflich eindeutig gesprochen werden, zudem ließe sich der von ihm beschriebene Sachverhalt empirisch nicht eingrenzen (z.B. Colpe, 1997).

Aus religionspädagogischer Perspektive bleiben in unserem Zusammenhang jedoch zwei Punkte entscheidend: Erstens können sich mit Heiligen, Göttern und den mit ihnen verbundenen Handlungen auch für die Gläubigen selbst Ambivalenzen von Vertrautheit und Unvertrautheit mit zum Teil massiven Fremdheits- oder gar Irritationserfahrungen verbinden. In diesem Sinne bleibt also auch für Gläubige eine Grenze des Nicht-Verstehens. Zweitens lässt die Erfahrung von Fremdheit im eigenen Glauben die Gläubigen dem Transzendenten gegenüber eine besondere Sensibilität entwickeln, die gerade beim Verstehenlernen beachtet und respektiert werden sollte.

1.4. Fremdheit und Schülerschaft

Zunächst ist bei Reaktionen der Schülerschaft gegenüber fremdem Religiösen festzuhalten: Die vielfältigen und oft gemischten Gefühle der Jungen und Mädchen angesichts von Fremdem haben ihr Recht. Unsicherheit und Neugier, Angst und Faszination sind natürliche Reaktionen. Aggression folgt oft aus Ängsten, Ironie kann auch aus überspielter Faszination entstehen, Albernheit aus Unsicherheit. Als Besonderheit ist damit verknüpft anzuführen, dass Schülerinnen und Schüler vielfältige Stereotypen und Vorurteile gegenüber fremden Traditionen mitbringen. Pädagogisch gesehen ist diesen „Befindlichkeiten“ Raum zu geben.

2. Fremdheit als religionspädagogische Aufgabe

Aus diesen Vorüberlegungen sind nun grundlegende Kriterien und Zielperspektiven zu entwickeln (2.1.), um danach Fragen der Themenauswahl, der Motivation und der Methodik folgen zu lassen (2.2.-2.4.).

2.1. Kriterien und Zielperspektiven

Aus den vorangehenden Überlegungen folgt als Ziel im Umgang mit fremder religiöser Tradition:

Erstens, negativ formuliert: es geht nicht darum, Fremdheit aufzulösen und Vertrautheit herzustellen. Positiv formuliert geht es darum, sowohl dazuzulernen als auch ein Bewusstsein für bleibende Fremdheit zu wahren.

Zweitens sind sowohl im Sinne der Schülerinnen und Schülern als auch im Sinne des Unterrichtsgegenstandes Lernwege zu wählen, die einerseits dem Fremden in seiner Andersartigkeit, andererseits den Lernenden mit ihrem Verstehenshorizont gerecht werden.

Drittens sind Sozialverhalten sowie Training und Reflexion des Perspektivwechsels darauf abzustimmen (Tautz, 2007, 345-347; 2015), Vertrautwerden mit bleibender Differenz ins Verhältnis zu setzen.

Viertens umschließt Begegnung bei Grenzwahrung auch inhaltlichen Austausch, das heißt, dass Schülerinnen und Schüler lernen, sich fremden Fragen anderer Traditionen zu stellen und dadurch eigene Perspektiven und Positionen zu entwickeln.

2.2. Themenwahl bei fremden Traditionen

Die Themenwahl ist entsprechend den genannten Zielen abzustimmen und damit verbunden die Frage zu stellen, welche Themen der fremden Tradition gerecht werden und gleichzeitig dem Lernen der Schülerinnen und Schüler für ihre eigene religiös-weltanschauliche Entwicklung dienen. Allgemein didaktisch schließt sich daran häufig eine Frage nach der Priorität an: Ist das Material eher so zu wählen, dass es für und in der fremden Tradition stimmig ist oder dass es zuerst für die Schülerinnen und Schüler mit ihrem religiösen und spirituellen Denken und Verstehen ein Gewinn ist (Meyer, 2012, 190). Im Optimalfall wird sich ein Schwerpunkt in einer der beiden Richtungen herauskristallisieren, ohne den anderen Aspekt zu unterschlagen.

2.3. Motivation

Zur Frage der Motivation können in Bezug auf unser Leitthema drei Punkte betont werden:

Bei der Motivation von Schülerinnen und Schülern sind die oben unter 1.1. und 1.4. genannten Irritationen durch Fremdheit in Rechnung zu stellen: Unsicherheiten, die zu überspielender Ironie werden oder in Distanzwünschen münden, Ängste, die in Aggression umschlagen, wie auch rückhaltlose Übernahmewünsche. Im Zweifel ist den zu Grunde liegenden Emotionen zunächst Raum zu geben. Gleichzeitig gelingt Motivation dadurch, dass die konstruktive Seite der ambivalenten Fremdheitserfahrungen gefördert wird, wie im Falle von Neugier, aber auch auf längere Sicht hin der Wunsch, eigene Traditionen auf das Fremde hin klarer profilieren zu können (ausführlicher: Meyer, 2011b).

Zwei grundlegende Möglichkeiten zur Motivation sind darüber hinaus zu erwähnen und zum Teil damit verknüpft: die Möglichkeit autonomen Handelns und personale Beziehung (Ryan/Deci, 2000).

Autonomie lässt sich in allen Aufgaben ansprechen, die sich mit eigenen „Forschungsmöglichkeiten“ gegenüber bisher Unbekanntem verbinden. Festgelegte Forschungsformen, z.B. aus der Ethnographie (Jackson, 1990) geben bei Unsicherheit eine „geordnete“ Herangehensweise, Neugier wird gefördert. Hier bietet sich ein weites Feld an, besonders im regionalen Umfeld nach religiösen Formen Ausschau zu halten. Durch regionale Nähe und gleichzeitig offensichtliche Glaubensdifferenz bekommt die genannte Ambivalenz eine eigene Profilierung.

Darüber hinaus motiviert jede Form der personalen Begegnung über erste Irritationen hinweg. Pädagogisch versierte Gäste im Unterricht oder Besuche sind daher besonders anzuraten (vgl. auch Meyer, 2014). Die Motivation durch Klassenkameraden und Klassenkameradinnen aus anderen Traditionen ist vorsichtig anzugehen, da Schülerinnen und Schüler anderer (wie eigener) Traditionen in der Regel nicht genug Hintergrund mitbringen und Überforderung droht (Meyer, 2012, 57-58). Hier bietet sich an, mit medial aufbereiteten Repräsentanten (siehe unten 2.4.) zu arbeiten und je nach Möglichkeit den Glauben von Schulkameraden zusätzlich hinzuzuziehen.

In diesen Varianten entstehen durch Personen erste Brücken, die angesichts der genannten Ambivalenzen einen konstruktiven Impetus bilden.

2.4. Methoden

In der Linie des bisher Dargestellten sind folgende Methoden noch im Einzelnen hervorzuheben:

1. Zunächst ist es im christlich-konfessionellen Unterricht möglich, den religiös fremden Unterrichtsgegenstand nicht wie jedes christliche Material zu präsentieren, sondern in Unterrichtsmaterialien Hinweise auf die bleibende Differenz zu implementieren. Dies kann im Primarbereich zum Beispiel ganz schlicht durch einleitende Klänge geschehen (Grimmitt/Grove/Hull, 1991) oder durch eine sich abhebende Farbe (Meyer, 2011a).

2. Gerade angesichts der doppelten Aufgabe der Wahrung von Differenzbewusstsein bei gleichzeitiger Annäherung und Aufnahme von Impulsen helfen medial aufbereitete personale Repräsentanten, die spezifische Zugehörigkeit und so Differenz zu veranschaulichen – gleichzeitig aber auch Verstehen zu fördern (ausführlich: Meyer, 2014).

3. Wahrnehmungsübungen, Rollenspiele und die Beachtung der Fähigkeit zum → Perspektivenwechsel (Tautz, 2015) helfen, ein Bewusstsein für andere Sichtweisen, aber auch für den eigenen Standpunkt zu gewinnen.

4. Schließlich sind Aufgaben zu nennen, die Impulse vom Fremden zum Eigenen initiieren (Meyer, 2012, 272f.;288f.; Beispiele vgl. Meyer, 2011a, 22f.;82); sie vertiefen so ein Zweifaches: einerseits das Verständnis aus den Möglichkeiten der eigenen Perspektive, andererseits auch die Profilierung der eigenen Seite und damit das Bewusstsein „Gewinn“ bringender Unterschiedenheit.

Literaturverzeichnis

  • Bennett, Milton, In the wake of September 11, in: Leenen, Wolf R. (Hg.), Enhancing intercultural competence in police organizations, München/Berlin 2002, 23-41.
  • Colpe, Carsten, Wie universal ist das Heilige? in: Klimkeit, Hans-Joachim (Hg.), Vergleichen und Verstehen in der Religionswissenschaft, Studies in Oriental Religions 4, Wiesbaden 1997, 1-12.
  • Gärtner, Claudia, Art. Hermeneutik des Fremden (2015), in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de, (https://doi.org/10.23768/wirelex.Hermeneutik_des_Fremden.100078, PDF vom 10.10.2017).
  • Grimmitt, Michael H./Grove, Julie/Hull, John/Spencer, Louise, A Gift to the Child. Religious Education in the Primary School. Teachers' Source Book, London 1991.
  • Jackson, Robert, Children as Ethnographers, in: Jackson, Robert (Hg.), The Junior RE Handbook, Cheltenham 1990, 200-213.
  • Meyer, Karlo, Interreligiöse Impulse – Grundlagen zum hermeneutisch-pädagogischen Problem, dialogische Anstöße durch fremde religiöse Traditionen aufzunehmen, in: Zeitschrift für Pädagogik und Theologie (2014) 4, 338-348.
  • Meyer, Karlo, Zeugnisse fremder Religionen im Unterricht. „Weltreligionen“ im englischen und deutschen Religionsunterricht, Göttingen 2. Aufl. 2012.
  • Meyer, Karlo, Weltreligionen. Kopiervorlagen für die Sekundarstufe I, Göttingen 2. Aufl. 2011a.
  • Meyer, Karlo, Die Ambivalenz der Fremdheit und ihr religionspädagogisches Potential, in: Loccumer Pelikan 3 (2011b), 103-107.
  • Otto, Rudolf, Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen, München 1917.
  • Ryan, Richard M./Deci, Edward L., Self-Determination Theory and the Facilitation of Intrinsic Motivation, Social Development, and Well-Being, in: American Psychologist 55 (2000) 1, 68-78.
  • Streib, Heinz, Wie finden interreligiöse Lernprozesse bei Kindern und Jugendlichen statt? Skizze einer xenosophischen Religionsdidaktik, in: Schreiner, Peter/Sieg, Ursula/Elsenbast, Peter (Hg.), Handbuch Interreligiöses Lernen. Eine Veröffentlichung des Comenius-Instituts, Gütersloh 2005, 230-243.
  • Sundermeier, Theo, Den Fremden verstehen. Eine praktische Hermeneutik, Sammlung Vandenhoeck, Göttingen 1996.
  • Tautz, Monika, Art. Perspektivenwechsel (2015), in: Das wissenschaftlich-religionspädagogische Lexikon im Internet www.wirelex.de, (https://doi.org/10.23768/wirelex.Perspektivenwechsel.100074, PDF vom 10.10.2017).
  • Tautz, Monika, Interreligiöses Lernen im Religionsunterricht. Menschen und Ethos im Islam und Christentum, Praktische Theologie heute 90, Stuttgart 2007.
  • Wierlacher, Alois, „Ausgangslage, Leitbegriffe und Problemfelder“, in: Wierlacher, Alois (Hg.), Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kulturwissenschaftlicher Fremdheitsforschung, Kulturthemen. Beiträge zur Kulturforschung interkultureller Germanistik 1, München 1993, 19-112.

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